Musiktheater im Revier: „On the Town“

„On the Town“ – nach dem Ballett „Fancy Free“ von Jerome Robbins und Leonard Bernstein; Musik: Leonard Bernstein; Gesangstexte, Buch: Betty Comden, Adolph Green; Deutsche Bearbeitung: Rolf Merz und Gerhard Hagen; Inszenierung: Carsten Kirchmeier; Choreografie: Bridget Breiner; Bühne: Jürgen Kirner; Kostüme: Renée Listerdal; Dramaturgie: Ulla Theißen; Licht: Patrick Fuchs; Musikalische Leitung: Rasmus Baumann. Darsteller: Piotr Prochera (Gabey), Michael Dahmen (Chip), E. Mark Murphy (Ozzie), Dorin Rahardja (Claire DeLoone), Judith Jakob (Brunhilde „Hildy“ Esterhazy), Julia Schukowski (Ivy Smith), Noriko Ogawa-Yatake/Christa Platzer (Madame Maude P. Dilly), Joachim Gabriel Maaß (Pitkin W. Bridgework), Betty Garcés („Der Star von morgen“ [Diana Dream, Senorita Dolores Dolores]), Vasilios Manis (Coférencier, Announcer), Nikolai Miassojedov (Vorarbeiter), Rüdiger Klimm (Chef), Jan Ciesielski, Bernd Frings, Beyond Il Yun, Jerzy Kwika (Arbeiterquartett), Fabio Boccalatte, Apostolos Kanaris, Matthias Koziorowski (drei neue Seeleute), Patricia Pallmer (Flossie), Halina Kempa (Freundin von Flossie), Birgit Brusselmans (Lucy Schmeeler), Sabina Detmer (Alte Dame), Sergey Fomenco (Polizist), Georg Hansen (Mr. S. Uperman), Oliver Aigner (Waldo Figment). „Lonely Town Pas de deux“: Francesca Berruto, Valentin Juteau; „Traum Pas de deux“: Aidan Gibson, Junior Dimitre; Tänzerinnen: Maiko Arai, Francesca Berruto, Nora Brown, Rita Duclos, Aidan Gibson, Ayako Kikuchi; Tänzer: Fabio Boccalatte, Joseph Brunn, Ordep Rodriguez Chacon, Petar Djorcevski, Valentin Juteau, Hugo Mercier. Clemens Becker, Gregor Perlik, Alexander Poetsch (Arbeiter), Monika Hüttche, Baycan Sarcan, Matthias Günzel, Dennis Köster (Matrosen, Kellner, Verkäufer, Passanten). Uraufführung: 13. Dezember 1944, Colonial Theater, Boston. Broadway-Premiere: 28. Dezember 1944, Adelphi Theater, New York City. Deutsch­sprachige Erstaufführung: 9. September 1977, Theater im Pfalzbau, Ludwigshafen. Premiere: 1. Februar 2014, Musiktheater im Revier Gelsenkirchen, Großes Haus. Besuchte Vorstellung: 8. Februar 2014.



„On the Town“


24 Stunden ausgelassenes Leben in New York


Ensemble; Foto: Thilo Beu

Mit „On the Town“ nimmt sich das Musiktheater im Revier einem lange gehegten Wunsch seines Chefdirigenten Rasmus Baumann folgend Leonard Bernsteins erstem Musical an, das er im Alter von 26 Jahren an den Broadway brachte. Der Erfolg der von Leonard Bernstein und Jerome Robbins ursprünglich als Ballett konzipierten Aufführung „Fancy Free“, das am 18. April 1944 an der Metropolitan Opera uraufgeführt wurde, veranlasste Bernsteins Freunde Betty Comden und Adolph Green, eine Komödie um die Erlebnisse der drei Matrosen Gabey, Ozzie und Chip während ihres 24-stündigen Landaufenthalts in New York zu schreiben. Mit dem Libretto, das die Matrosen an diverse touristische Attraktionen New Yorks führt, schrieben sie eine „Liebeserklärung“ an ihre Heimatstadt. Leonard Bernstein unterstrich ihre Intention mit der rasanten Eröffnungsnummer „New York, New York“ – nicht zu verwechseln mit „New York, New York“ von John Kander und Fred Ebb, das Liza Minnelli im gleichnamigen Film gesungen hat. Dementsprechend verzichtete auch das Musical nicht auf das legendäre Ballett und Jerome Robbins hat eine Reihe von Tanzsequenzen wie „Miss Turnstiles Ballet“, „Lonely Town Pas de deux“, „Times Square Ballet“ oder das „Imaginary Coney Island Ballet“ für „On the Town“ choreografiert. Das Stück wurde 1949 von Gene Kelly und Stanley Donen mit Gene Kelly (Gabey), Frank Sinatra (Chip), Jules Munshin (Ozzie), Ann Miller (Claire Huddesen), Betty Garrett (Brunhilde „Hildy“ Esterhazy) und Vera-Ellen (Ivy Smith) in den Hauptrollen für den Film adaptiert, für den Roger Edens und Lennie Hayton 1950 den Academy Award („Oscar“) für die Beste Musik (Scoring of a Musical Picture) gewonnen haben, wobei Leonard Bernsteins Partitur mit drei Ausnahmen durch Songs von Roger Edens ersetzt wurde. Später komponierte Leonard Bernstein zwei weitere Musicals als Hommage an New York: „Wonderful Town“ (Broadway-Premiere 25. Februar 1953, Winter Garden Theatre) und die „West Side Story“ (Broadway-Premiere 26. September 1957, Winter Garden Theatre), sein wohl erfolgreichstes Musical.

Michael Dahmen (Chip) und Judith Jakob (Hildy Esterhazy); Foto: Thilo Beu

Am frühen Morgen machen sich die Marinesoldaten Gabey, Chip und Ozzie am Marinestützpunkt Brooklyn Navy Yards zu einem 24-stündigen Landgang auf den Weg nach Manhatten, um dort das ausgelassene Leben zu genießen, bevor sie in den Krieg ziehen müssen. Auf dem Weg ist Gabey derartig fasziniert vom Bild der neuen „Miss U-Bahn“, Ivy Smith, dass er spontan beschließt, das Mädchen in New York zu finden. Ozzie und Chip wollen ihm bei der Suche helfen und teilen sich auf, um Ivy Smith ausfindig zu machen. Auf der Suche nach dem Traumgirl lernt Chip die resolute Taxifahrerin Hildy kennen, die ihn mit eindeutigen Absichten auf direktem Wege zu sich nach Hause fährt, Ozzie macht im Naturkundemuseum die Bekanntschaft der Anthropologiestudentin Claire, die von ihm wegen seiner Ähnlichkeit mit dem Pithecanthropus erectus, einem prähistorischen Vorfahren der Menschheit, angetan ist, und Gabey entdeckt Ivy beim Gesangsunterricht in der Carnegie Hall, als sie im Kopfstand Vokalübungen macht, damit sich ihre Gesangslehrerin Madame Maude P. Dilly unbemerkt eine neue Whiskeyflasche holen kann. Es ist Liebe auf den ersten Blick, doch ein für den Abend am Times Square verabredetes Treffen kommt nicht zustande, da Ivy von ihrer strengen Gesangspädagogin ermahnt wird, ihren Show-Auftritt auf Coney Island nicht zu versäumen. Und so bricht Gabey mit seinen Freunden Chip und Ozzie und deren Bekanntschaften Hildy und Claire in die New Yorker Nachtclubs auf. Doch sowohl im „Diamond Eddie’s“ als auch im „Congacobana“ sind ihnen die dargebotenen Nummern zu schwermütig, so dass sie auf ihre Weise versuchen, Gabey aufzuheitern. Der kann schließlich im „Slam Bang“ der völlig betrunkenen Madame Dilly Ivys Aufenthaltsort entlocken, bevor sie völlig verstummt. Als sie Ivy schließlich in Bimmys Harem Show entdecken, bleibt den Paaren nur noch wenig Zeit, denn der kurze Landaufenthalt geht schon fast zu Ende. Vor den Toren der Brooklyn Navy Yards nehmen Gabey, Chip und Ozzie von ihren Mädchen Abschied, bevor um 6 Uhr die Marinesoldaten Tom, Andy und Mike zu ihrem Landaufenthalt nach Manhatten aufbrechen.

E. Mark Murphy (Ozzie) und Dorin Rahardja (Claire DeLoone); Foto: Thilo Beu

Die drei Marinesoldaten Gabey, Chip und Ozzie und die drei Frauen Ivy Smith, Hildy und Claire, denen sie auf ihrem Landgang in Manhatten begegnen, prägen gleichberechtigt die turbulente Abenteuerreise durch die verschiedensten Situationen in der explosiven Metropole, die Regisseur Carsten Kirchmeier humorvoll und temporeich in Szene gesetzt hat. Bühnenbildner Jürgen Kirner versinnbildlicht die unterschiedlichen Stationen mit Überseekoffern in verschiedenen Größen, mithilfe von Projektionen ist darauf die Skyline der Stadt zu erkennen, in der sich das Geschehen entwickelt. In kürzester Zeit entstehen daraus – mitunter auch durch Einsatz der Drehbühne – die New Yorker U-Bahn, Hildys Taxi, mit dem sie durch die Straßenschluchten braust, ihre winzige Wohnung, die sie sich mit ihrer Mitbewohnerin Lucy Schmeeler teilt, das Naturkundemuseum mit einem Skelett des Tyrannosaurus rex, ein Probenraum in der Carnegie Hall, der Times Square, verschiedene Nachtclubs oder Coney Island. Kostümbildnerin Renée Listerdal vermittelt mit mehr als 250 individuellen Kostümen für die 57 Darsteller und Tänzer auf der Bühne stimmig das Flair der Metropole in den 1940er Jahren. Die Neue Philharmonie Westfalen bringt unter der Musikalischen Leitung von Rasmus Baumann Bernsteins facettenreiche Partitur fulminant zu Gehör. Die am Broadway übliche Ouvertüre, ein von einem Arrangeur auf Basis der Partitur zusammengestelltes „Best Of“, wurde gestrichen, stattdessen wird „On the Town“ am Musiktheater im Revier mit der ursprünglich von Bernstein konzipierten Introduktion „I Feel Like I'm Not Out of Bed Yet“ gespielt, die unmittelbar in „New York, New York“ übergeht. Auch der Song „Gabey’s Coming“, dessen Motiv sich wie ein roter Faden durch die Komposition zieht, darf in Gelsenkirchen natürlich nicht fehlen. Die von Ballettdirektorin Bridget Breiner stimmig choreografierten Tanzsequenzen, die über weite Strecken mit individuellen, musikalisch ausgearbeiteten Charakteren arbeiten, entwickeln sich aus der Handlung heraus, es handelt sich nicht allein um abgeschlossene Show-Einlagen, womit das Ballett im Revier zum handlungstragenden Bestandteil der Aufführung wird. Beispielsweise beschreiben der „Lonely Town Pas de deux“ im 1. Akt und das „Imaginary Coney Island Ballet“ im 2. Akt Gabeys Gemütszustand auf der Suche nach seiner Traumfrau.

Piotr Prochera (Gabey) und Julia Schukowski (Ivy Smith); Foto: Thilo Beu

Michael Dahmen als anfänglich herrlich naiver Matrose Chip, der als ultimativer Tourist keine Sehenswürdigkeit in New York verpassen möchte, und Judith Jakob, die augenblicklich auch als Sally Bowles in der erfolgreichen „Cabaret“-Inszenierung von Sandra Wissmann am Kleinen Haus zu sehen ist, als selbstbewusste, freche und aggressive Taxifahrerin Brunhilde „Hildy“ Esterhazy, die kein ‚Nein‛ als Antwort akzeptiert, insbesondere nicht von Chip, harmonieren als Paar sehr schön. Judith Jakob begeistert mit ihrer lebhaften Darstellung bei der gemeinsamen Taxifahrt („Come Up to My Place“) sowie beim Stelldichein in Hildys winziger Wohnung („I Can Cook Too“). E. Mark Murphy versteht es in der Rolle des Matrosen Ozzie als Frauenheld, Dorin Rahardjas wilde Seite in der Rolle der intellektuellen Anthropologiestudentin Claire zum Vorschein zu bringen, woraufhin beide in ihrem Duett „Carried Away“ beschwören, dass sie gegen ihre Gefühle füreinander nicht ankämpfen können, wobei Dorin Rahardja mit ihrem tadellosem Sopran überzeugt. Piotr Prochera als nachdenklicher Matrose Gabey, der sich Hals über Kopf in „Miss U-Bahn“ verliebt, als er ihr Bild auf einem Plakat gesehen hat, und Julia Schukowski als besagtes Kleinstadtmädchen Ivy Smith, die versucht, als aufstrebende Schauspielerin und Tänzerin ihren Weg zu machen, können sich buchbedingt nicht so stark profilieren, doch Piotr Prochera kann in „Gabey’s Coming“ mit Nachdruck auf sich aufmerksam machen, und Julia Schukowski bleibt mit ihren Vokalübungen „Do-Do-Re-Do“ in der Carnegie Hall im Kopfstand im Gedächtnis. In den kleineren Rollen kann Noriko Ogawe-Yatake mit ihrem melancholischen Song „Ain’t Got No Tears Left“, der am Broadway gestrichen wurde, der Figur der strengen Gesangspädagogin Madame Maude P. Dilly im zweiten Akt ein wenig mehr Profil verleihen, als lediglich dem Alkohol zuzusprechen. Joachim Gabriel Maaß kommt in der Rolle des ein wenig zu leichtgläubigen Richters Pitkin W. Bridgework als gehörnter Verlobter immer erst, wenn ihn Claire nur noch die Rechung in den Nachtclubs begleichen lässt, ein Running Gag im zweiten Act.

Ensemble; Foto: Thilo Beu

Mit „On the Town“ steht am Musiktheater im Revier auch 70 Jahre nach der Broadway-Premiere eine kurzweilige, überzeugende Musicalproduktion auf dem Spielplan, die in insgesamt 14 Vorstellungen noch bis zum 1. Juni 2014 zu sehen ist.

Haben Sie selbst „On the Town“ am Musiktheater im Revier schon gesehen? Wie hat Ihnen die Vorstellung gefallen?

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